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Zwischen Fiktion und Wirklichkeit

2011 
Fiktion und Realitat scheinen in ihrer Oppositionalitat als Gegenpole, als Antonyme, unvereinbar voneinander getrennt, stehen jedoch seit der Antike, seit Beginn kunstlerischen Denkens, in einem engen wechselseitigen Verhaltnis. Auch im Theater kollidiert seit jeher die Fiktion des gesprochenen Textes und der dargestellten Rolle mit der Realitat des sprechenden und darstellenden Leibes, des Schauspielerkorpers. Realitat und Fiktion waren und sind somit dem Theater stets immanent. Das Bewusstsein, dieser Dualitat im Theater unabdingbar zu begegnen, fuhrte zu den unterschiedlichsten asthetischen Strategien und damit zu einem vielfaltigen Einsatz dieser beiden Gegenpole. Ziel meiner Forschung ist es, jene Grauzone im Gegenwartstheater zu beleuchten, in der der Zuschauer nicht mehr zwischen »real« und »fiktiv« zu unterscheiden vermag. Jenen Bereich, in dem das Theater den Besucher durch die Inszenierung von realen (Lebens-)Situationen in einen Zustand hochster Unsicherheit manovriert, da er sich auf das prinzipielle Versprechen von Theater, eine Geschichte zu erzahlen, nicht mehr verlassen kann. Ein Bereich, uber den sich das Publikum – sicher, passiv und unbemerkt in seinem abgedunkelten Zuschauerraum – lange Zeit keine Gedanken machen musste. Es konnte uber den Bezug einer Handlung, einer Geschichte zur Realitat/zu realen politischen Ereignissen etc. reflektieren, konnte sich aber dennoch wahrend der Dauer des Stucks in eine fiktionale Welt zuruckziehen. Seit Anfang der 80er Jahre versuchen immer mehr Theatermacher den Zuschauer genau mit dieser Grauzone zu konfrontieren und dadurch deren Rezeptionsgewohnheiten grundlegend zu verandern. Dies geschieht unter anderem durch eine von Hans-Thies Lehmann attestierte Asthetik der Unentscheidbarkeit, die als Zentraler Begriff meiner Diplomarbeit zu sehen ist. Diese Asthetik der Unentscheidbarkeit definiert sich uber inszenatorische Mittel und asthetische Konzepte, die, bewusst zum Einsatz oder durch die Konstellation der Spielsituation automatisch hervor gebracht, fur den Zuschauer in einer „Unentscheidbarkeit, ob [er] es mit Realitat oder Fiktion zu tun hat“1, kulminiert. Dabei nehme ich an, dass die grundlegenden Faktoren fur eine Asthetik der Unentscheidbarkeit im Einbruch des Realen und in gleicher Weise im Ausbruch des Theaters aus dem geschlossenen Theaterraum in den offentlichen (Stadt)Raum zu finden sind. Weitere asthetische Mittel, die ich einer genaueren Untersuchung unterziehe, entnehme ich dem theaterwissenschaftlichen Vokabular von Erika Fischer-Lichte. Dabei zeigt sich, dass der Zuschauer vor allem dann nicht mehr zwischen real und fiktiv entscheiden kann, wenn dieser, im Zuge einer Performance, Transformationsprozessen ausgesetzt wird. Diesbezuglich untersuche ich in Rekurs auf Erika Fischer-Lichte und Victor Turner die Begriffe »Liminialitat« und »communitas« und uberprufe diese auf ihr transformatorisches Potential. Diese Untersuchung zeigt, dass fur den Zuschauer vor allem Schwellenzustande, die Bildung einer vorubergehenden Gemeinschaft, aber auch die eine temporare Transformation in einen Akteur ein Differenzieren zwischen Realitat und Fiktion unmoglich machen, da er sich dabei im „Zustand eines radikalen »betwixt and between«“2 befindet. Zusatzlich wird durch meine Ausfuhrungen deutlich, dass auch die Autonomie der Kunst und die damit verbundene Rahmensetzung des Publikums eine Asthetik der Unentscheidbarkeit weiter verstarkt, da der Zuschauer in diesem Fall stets im Sinne der Kunst – und damit in einem asthetischen Kontext – denkt und dementsprechend schwerer zwischen einer kunstlerischen Intervention und Alltagswirklichkeit differenzieren kann. Um fur meine Analyse zu einer Asthetik der Unentscheidbarkeit eine wissenschaftlich korrekte, praktische und prazise Definition der Begriffe »Fiktion und Wirklichkeit« zu finden, befasse ich mich mit verschiedenen philosophischen, literatur- und sozialwissenschaftlichen Positionen, die sich mit der dualistischen Beziehung zwischen Fiktion und Realitat beschaftigen. Besonders die von Niklas Luhmann angeregte Unterscheidung zwischen realer Realitat und fiktionaler Realitat stellt sich dabei als entscheidend fur meine eigenen Uberlegungen heraus. Um eine Asthetik der Unentscheidbarkeit zu konkretisieren und auch auf praktischer Ebene zu belegen, konzentriere ich mich in meiner Analyse auf den 2009 von brut Koproduktionshaus Wien realisierten Theaterparcours X Wohnungen im Stuwerviertel 2009. Dieses Projekt vereint die wichtigsten Elemente gegenwartiger Inszenierungsstrategien, die die Unmoglichkeit einer Differenzierung zwischen Realitat und Fiktion zum zentralen Thema des asthetischen Ereignisses machen. X Wohnungen ist ein 2002 von Matthias Lilienthal fur die Stadt Duisburg, die in diesem Jahr Austragungsort fur das Festival Theater der Welt war, entwickeltes Format, das sowohl den offentlichen, als auch privaten Raum zur Buhne und damit zum Ort theatralen Geschehens macht. In diesem Projekt bekommt der Besucher Einsicht in private Wohnungen, die von verschiedenen internationalen Kunstlern inszeniert werden, und, durch das durchwandern des Stadtgebiets zwischen den einzelnen Wohnungen, auch einen Uberblick uber das gesamte Viertel einer Stadt. X Wohnungen verbindet demnach Elemente der walking performance mit Elementen des Site Specific Theatre. Dieses Format, in seiner Inszenierung im Wiener Stuwerviertel, und im Besonderen die vom Architektenduo tat ort, der Regisseurin Angela Richter und dem Kunstlerkollektiv Kaspar Wimberley & Susanne Kudielka in Szene gesetzten Wohnungen werden Ausgangspunkt meiner praktischen Analyse einer Asthetik der Unentscheidbarkeit und versuchen somit das in der Theorie Besprochene zu festigen, veranschaulichen und neue Blickwinkel auf mein Thema zu eroffnen.
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