Die moderne Großstadt im frühen Werk Bertolt Brechts untersucht an "Aus dem Lesebuch für Städtebewohner" und "Im Dickicht der Städte"

2014 
Die moderne Grosstadt, vor allem das Berlin der 20er Jahre, ist ein Sujet, das bis heute in Kunst, Kultur und Wissenschaft aufgegriffen und diskutiert wird. Die Metropolen der Moderne wurden aber bereits von Kunstler_innen und Intellektuellen ihrer Zeit mit Interesse wahrgenommen und zum Thema ihrer Werke gemacht. Auch Bertolt Brecht hat sich mit der modernen Grosstadt beschaftigt. Vor allem seine fruhen Werke zeugen von seinem Interesse fur die urbane Wirklichkeit. Bemerkenswert ist, dass das Thema „Stadt“, im Vergleich zur sonst so uppigen Forschung und Literatur zu Brecht, im wissenschaftlichen Diskurs wenig Beachtung findet. Die vorliegende Arbeit schlagt hier einen anderen Weg ein, so steht die moderne Grosstadt im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit Brecht und einer Auswahl seiner Werke. Ein nicht unwesentlicher Teil der Untersuchung basiert dabei auf dem personlichen Verhaltnis des Theaterschaffenden zur Stadt. Chroniken, Darstellungen von Weggefahrten, Tagebuchnotizen und Briefe zeugen davon, wie er selbst die moderne Grosstadt, in Form des Berlins der 20 Jahre des vorigen Jahrhunderts, erlebt hat. Die Analyse des Materials legte offen, dass Brecht es einerseits hervorragend verstand, sich in die urbane Gesellschaft einzufugen. Er vernetzte sich schnell mit masgebenden Akteuren der kreativen Szene und etablierte sich bald unter den Kunst- und Kulturschaffenden. Auserdem wusste er geschickt mit Verlagen und Theatern zu verhandeln und seine Werke am geschaftigen Berliner Kunstmarkt zu positionieren. Andererseits behielt sich Brecht eine gewisse Distanz zur grosstadtischen Gesellschaft. Er nutzte seine Perspektive des Ausenstehenden, um mit etwas Abstand deren Konstruktionsprinzipien und Prozesse wahrzunehmen und zu erfassen. Dabei entlarvte er seine pulsierende Umgebung gleichzeitig als kalt, oberflachlich und den Anforderungen des schnelllebigen Kapitalismus unterworfen. Seine aufmerksamen Beobachtungen hat Brecht beispielsweise in jenen Werken verarbeitet, die an dieser Stelle analysiert wurden, namlich in der Gedichtsammlung Aus dem Lesebuch fur Stadtebewohner (1926/27) und dem Theaterstuck Im Dickicht der Stadte (UA 1927). Hier entwirft er ein perspektivenreiches Bild des Urbanen, das auch die Widerspruche aus seinen eigenen Berlin-Erfahrungen einschliest. Brechts Bild der Grosstadt umfasst dabei folgende Charakteristika: (1) Die Grosstadt besteht im permanenten Wechsel, der langfristige Bindungen und Verbindlichkeiten verunmoglicht, eine unstete und schwer einschatzbare Lebenssituation schafft, den Moment fokussiert, diesen von Zukunft und Vergangenheit abkoppelt, aber auch Offenheit fur Neues, fur das Moderne und fur die Zukunft garantiert. (2) Das Individuum kann sich in der Grosstadt aus sozialer Kontrolle befreien, von Traditionen und uberkommenen Normen emanzipieren und kreative Alternativen ergreifen. Gleichzeitig muss es sich von Vertrautem trennen, Werte und „Ansichten“ ablegen und es darf keine „Spuren“ hinterlassen, die auf seine individuelle Eigenart hinweisen. (3) Die Grosstadt ist vom Kapitalismus durchsetzt. Er ist die Dynamik, die die Stadt antreibt. Er pragt die Zwischenmenschlichkeit, die rational, berechnend, gefuhlskalt und scheinbar formal gerecht ist. Er macht die Grosstadt aber auch unubersichtlich und schwer einschatzbar, weil er das Transitorische fordert, nach eigenen und unerklarlichen Gesetzen funktioniert und die Stadtebewohner immer wieder in Uberlebens- und Konkurrenzkampfe verstrickt. (4) Die Grosstadt bei Brecht ist nicht manifest. Ihre Substanz ist veranderlich. Die Stadt ist verdichtete Gesellschaft, die von den Worten der Allgemeinheit getragen und in diesen reproduziert wird. Die Bewohner_innen stellen die Wirklichkeit der Grosstadt diskursiv her und konnten diese daher auch verandern. Im Stuck Im Dickicht der Stadte wendet Brecht Elemente des epischen Theaters, wie beispielsweise die Darstellung des „veranderlichen“ Menschen, gezielte „Historisierung“ sowie die Schaffung von „Erkenntnis“-stiftender Distanz durch „Verfremdung“ und „Unterbrechung“ an, um den Zuschauer_innen die grosstadtische Wirklichkeit aus unterschiedlichen Perspektiven zu erhellen. Dadurch erhalten diese „Kenntnisse“ uber die urbane Gesellschaft, die eine kritische „Haltung“ und letztlich politisches „Eingreifen“ moglich machen. Die Arbeit gelangt zu dem Schluss, dass Brecht seinem (Lese)Publikum mittels der Grosstadt die Ambivalenz der Freiheit in der kapitalistischen, modernen Gesellschaft vor Augen fuhrt. Einerseits befreit das Leben in der modernen Grosstadt aus sozialer Kontrolle, Grenzen und Schranken, andererseits beschrankt es den Handlungsspielraum, weil man sich den Anforderungen des Kapitalismus und der transitorischen Modernisierung unterwerfen muss. Hier zeigt Brecht in aller Klarheit, dass es das eine ohne das andere nicht gibt. Er macht aber gleichzeitig deutlich, dass diese grosstadtische Wirklichkeit nicht so sein muss, wie sie ist, sondern dass sie von Menschen, die sich als wirklichkeitserzeugende Allgemeinheit begreifen, verandert werden kann.
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