Demokratisierung im ungeklärten Staat? : Das UN-Protektorat im Kosovo – eine Bilanz

2010 
Auch wenn inzwischen andere Konfliktherde die internationale Aufmerksamkeit in Beschlag nehmen, bleibt die Befriedung des Westbalkans unabgeschlossen und auf der Agenda der Staatengemeinschaft, speziell der Europaischen Union. Das gilt besonders fur das Kosovo. Dort haben sich nach dem 1999 von der NATO gefuhrten Bombenkrieg machtige internationale Akteure – NATO, UNO, OSZE und EU – vorgenommen, die Konfliktregion, die den Zerfallsprozess des sozialistischen Jugoslawiens zehn Jahre zuvor ausgelost hatte, von ausen mittels Demokratisierung zu befrieden und an die Europaische Union heranzufuhren. Die fur die meisten Falle externer Demokratisierung berechtigte und gangige Kritik, die Staatengemeinschaft setze zu wenig Mittel ein, zielt im Kosovo daneben. Denn es mangelte weder an Truppen noch an Finanzhilfen. Im kleinen Kosovo mit seinen gut 10.000 Quadratkilometern und seinen etwa zwei Millionen Einwohnern betrug die internationale Finanzhilfe in den ersten beiden Jahren pro Kopf umgerechnet etwa das Vierfache dessen, was Deutschland 1946/47 im Rahmen des Marshallplans erhielt. Und im Kosovo waren – ebenfalls pro Kopf der Bevolkerung – rund 50 Mal so viel internationale Soldaten eingesetzt wie in Afghanistan. Nie zuvor hatte sich die UNO mit einem derart umfassenden Mandat um Demokratisierung bemuht; die OSZE unterhalt dort ihre groste Mission; und die Europaische Union unterstutzt seit 2008 mit ihrer bisher ambitioniertesten Mission im Rahmen der Europaischen Sicherheits und Verteidigungspolitik (ESVP) den Auf- und Ausbau eines Rechtsstaats im Kosovo. Gleichwohl wird man das internationale Engagement im Kosovo nicht ohne Weiteres als Erfolgsgeschichte bezeichnen. Das Kosovo ist heute von einer funktionierenden Demokratie und von den fur einen EU-Beitritt erforderlichen Kriterien noch weit entfernt. 2010 befreite die EU den Westbalkan von der Visumspflicht fur den Schengen-Raum – ausgenommen das Kosovo. Und im Dezember 2010 sorgte ein Bericht des Schweizer Politikers Dick Marty fur den Europarat fur Aufsehen, in dem der Ministerprasident des Kosovo bezichtigt wird, 1999 schwere Kriegsverbrechen begangen zu haben. Die demokratische Transformation ethnisch gespaltener Burgerkriegsgesellschaften ist mit ungleich groseren Schwierigkeiten behaftet als die Uberwindung autokratischer Systeme. Denn hier stehen sich die ethno-nationalen Antagonisten weiterhin in unverminderter Konfrontation gegenuber. Ihre Vorstellungen vom Nationalstaat und seiner territorialen Gestalt widersprechen sich. Somit fehlen hier wesentliche Voraussetzungen fur eine erfolgreiche Demokratisierung: die Akzeptanz eines gemeinsamen Staates und seiner Grenzen sowie ein gemeinsamer demos. Demokratische Institutionen konnen ein nationales Gemeinschaftsgefuhl fordern, wie umgekehrt ein solches Zugehorigkeitsgefuhl jene erst mit Leben fullt. In ethnisch gespaltenen Nachburgerkriegsgesellschaften erscheint diese Wechselwirkung zwischen Staatsaufbau und Nationsbildung als Circulus vitiosus. Denn hier mussen staatliche Einrichtungen des Regierens und des Gewaltmonopols neu errichtet werden. Die Burgerkriegsparteien akzeptieren das Gewaltmonopol nur, wenn sie an den Entscheidungen hinreichend beteiligt sind. Das Kosovo steht exemplarisch fur diesen Teufelskreis. Wie er das mit grosem Aufwand betriebene Projekt einer umfassenden Demokratisierung behindert hat, wird hier untersucht. Der Sicherheitsrat beauftragte nach dem Krieg in seiner beruhmten Resolution 1244 vom 10. Juni 1999 eine UN-Mission (UNMIK) damit, es wieder aufzubauen, zu demokratisieren und die endgultige Regelung seines Status vorzubereiten. Spatestens am 17. Februar 2008, als das Kosovo seine Unabhangigkeit ausrief, war es eine Tatsache, dass die UNO mit dem Vorhaben gescheitert ist, Albaner und Serben zu jenem Minimum an praktischer Kooperation zu bewegen, ohne das kein demokratisches Gemeinwesen funktionieren kann. Doch hob die Unabhangigkeit den Teufelskreis nicht auf, vielmehr setzt er sich fort in der ungelosten Aufgabe, den mehrheitlich serbischen Norden des Kosovo, der den neuen Staat ablehnt, zu integrieren. Auch bleibt die Demokratie im Kosovo unvollendet. Seine Losung aus dem serbischen Staatsverband bedeutet vorerst keine Souveranitat, sondern „uberwachte Unabhangigkeit“. Letztlich entscheidet dort nicht das Volk, sondern eine verwirrende Vielfalt internationaler Akteure, von UNMIK, EU, NATO, International Civilian Office (ICO) bis hin zur OSZE. Sogar die Resolution 1244, die das Kosovo der UNO unterstellte, blieb in Kraft und uberdauerte auf widerspruchliche Weise die Unabhangigkeit, die 73 Staaten bis zum Januar 2011 anerkannt haben. Der Kosovo-Konflikt weist denkbar ungunstige Bedingungen fur eine externe Demokratisierung auf. Dazu gehoren nicht nur der Krieg von 1998/99 und die Unterdruckung der Kosovo- Albaner durch das serbische Milosecvi -Regime, sondern auch eine lange Vorgeschichte wechselseitiger „ethnischer Sauberungen“ seit dem 19. Jahrhundert. Zudem war das Kosovo Jugoslawiens Armenhaus mit einer weitgehend agrarischen Gesellschaft, dem hochsten Bevolkerungswachstum in Europa und vielfach traditionalen Mentalitaten sowie dem Kanun, einem staatsfernen Gewohnheitsrecht einschlieslich Blutrache. Alles in allem war die internationale Politik mit ihrer externen Demokratisierung insofern erfolgreich, als es ihr gelang, trotz ungunstiger Bedingungen im Kosovo demokratische Institutionen zu errichten. Diese haben sich – unter internationaler Hoheit – in mehreren Kommunal- und Parlamentswahlen sowie in zwei friedlichen Regierungswechseln bewahrt; die Achillesferse blieben Rechtsstaat und Justiz. Es gelang nicht, mittels dieser Institutionen Serben und Albaner im Kosovo zu jener minimalen Kooperation zu motivieren, auf die jede Demokratie angewiesen ist. Beide Seiten waren in der Statusfrage zu keinerlei Kompromissen bereit, die Forderung der Albaner nach Unabhangigkeit und der Anspruch der Serben auf die „Wiege der serbischen Nation“ schlossen sich aus. Das prazedenzlos breite und kostspielige internationale Engagement im Kosovo anderte nichts am Manichaismus beider Ethno-Nationen mit zwei Wirtschaftsraumen, zwei Sprachen und zwei entgegengesetzten nationalen Narrativen. Deshalb entschloss sich die UNO, die Unabhangigkeit als kleinstes Ubel zu unterstutzen. Die Vorstellung, Demokratisierung sei ein geeignetes Mittel, um verfeindete Volksgruppen mit ihren unversohnlichen Identitaten und Zielen zur praktischen Kooperation zu veranlassen, hat sich im Kosovo als unrealistisch entpuppt. Die UNMIK konnte beide Seiten nicht davon abbringen, sich weiterhin mit zwei unterschiedlichen Staaten zu identifizieren und den jeweils anderen abzulehnen. Dass die UNO sich 1999 auf ein gemeinsames Vorgehen im Kosovo nur um den Preis verstandigen konnte, dass sie die Statusfrage offen lies, hat ihre Demokratisierungsanstrengungen konterkariert. Kunftige Demokratisierungsvorhaben sollten daraus eine Lehre ziehen. Der ungeklarte Status nahm lange auch der Perspektive auf einen EU-Beitritt ihre konstruktive Wirkung. Weil die Staatszugehorigkeit offen und die EU zudem in dieser Frage uneins war, erzeugte die Integrationsperspektive keine Akzeptanz des gemeinsamen Staates. Gleichwohl agiert die EU im Kosovo besser, als viele meinen. Funf ihrer Staaten haben das Kosovo Inicht anerkannt, doch die Rechtsstaatsmission EULEX tragen alle EU-Mitglieder. Im Blick auf Serbien hat die EU einiges Geschick darin gezeigt, den Wunsch der Mehrheit, der reichen Europaischen Union beizutreten, als Hebel zu nutzen, um Reformkrafte zu starken und intransigente Nationalisten zu schwachen. Sie hat mit ihren Anreizen zum Machtverlust Kostunicas und zur Spaltung der Radikalen Partei beigetragen. Die EU sollte mit ihrer Politik der incentives fortfahren und Belgrad unmissverstandlich klar machen, dass es fur Serbien ohne Anerkennung des Status quo keinen Beitritt gibt. Das muss nicht unbedingt eine staatliche Anerkennung bedeuten. Der Unterschied birgt, wie man gerade aus der Geschichte des geteilten Deutschlands weis, durchaus einiges an Handlungsspielraum. Staatengemeinschaft und EU sollten ihren Kurs beibehalten und sich der ethno-nationalen Logik widersetzen. Der Vorschlag, staatliche Grenzen im Sinne ethno-nationaler Homogenisierung zu verschieben und das Kosovo aufzuteilen, wurde nicht nur schwierige Territorialfragen aufwerfen, sondern ware voraussichtlich auch mit Bevolkerungstransfers verbunden, die fur die Betroffenen selbst dann, wenn sie international uberwacht werden, langfristig fatale Auswirkungen haben, wie die langen Nachwirkungen des turkisch-griechischen Bevolkerungsaustauschs von 1923 hinreichend bezeugen. Zudem wurde ein Gebietstausch das – im Ahtisaari- Plan und in der Verfassung verankerte – Anschlussverbot des Kosovo untergraben, dem Ethno-Prinzip neuen Auftrieb verleihen und wahrscheinlich die bisher muhsam erreichte Stabilisierung der Staatenordnung auf dem Westbalkan wieder in Frage stellen.
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