»Von einem Mann gesungen ist sie so etwas vollkommen anderes«. Schuberts Winterreise in der Deutung von Sängerinnen

2021 
Schubert Winterreise war bis in die 1980er Jahre hinein eine Domane tiefer Mannerstimmen. Nach vereinzelten Vorlaufern wie Peter Anders oder Peter Pears wurde der Zyklus erst seit Mitte der 1980er Jahre haufiger von Tenoren gesungen und aufgenommen. Parallel zur wachsenden Prasenz von Tenoren vollzog sich ein weiterer Paradigmenwechsel, indem zunehmend auch Sangerinnen wie Christa Ludwig oder Brigitte Fassbaender die Winterreise interpretierten. Sie konnten sich einerseits auf das Vorbild groser Liedsangerinnen der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts wie Elena Gerhardt und vor allem Lotte Lehmann berufen und andererseits darauf verweisen, dass es in der Winterreise um grundlegende, nicht geschlechtsgebundene menschliche Erfahrungen geht. Von Mannern gesungen bewegt sich die Singstimme in der Winterreise uber weite Strecken in einem Tonraum unterhalb der Oberstimme des Klavierparts. Frauenstimmen hingegen singen in der notierten Oktavlage und damit entweder auf einer Ebene mit oder oberhalb der Klavierstimme, d. h. die Klangrelation zwischen Stimme und Klavier ist eine andere als in Interpretationen von Mannerstimmen. An einigen Stellen entstehen durch nach unten oktavierte Ausfuhrung der mannlichen Gesangsstimme irregulare Quartsextakkorde, die zwar aufgrund von wahrnehmungspsychologischen Phanomenen nicht als solche gehort werden, aber dennoch eine Ambiguitat von Notation und Klang erzeugen. Diese Ambiguitat entfallt bei der Ausfuhrung in der notierten Oktavlage, die zugleich andere Beziehungen zwischen Stimm- und Klavierklang hervortreten lasst. Until the 1980s, Schubert’s Winterreise was usually sung by low male voices. Despite sporadic precursors such as Peter Anders or Peter Pears, the cycle had not been sung and recorded frequently by tenors before the mid-1980s. Contemporaneous to tenors’ growing interest, another paradigm change was initiated by female singers such as Christa Ludwig or Brigitte Fassbaender performing Winterreise. In doing so, they were able to rely, on the one hand, on the example of great female lieder singers of the first half of the twentieth century such as Elena Gerhardt and especially Lotte Lehmann; on the other, they were able to point out that Winterreise deals with basic human insights which are not gender-specific. Sung by male singers, the singing voice in Winterreise is predominantly positioned in a space below the upper voice of the piano part. Female voices, on the contrary, sing in the notated octave register, thus in the same register as the piano part or above it: the sound relation between voice and piano differs from performances by male voices. In some instances, an octave-transposed rendition of the male singing voice results in irregular 6/4-chords. Although the irregularity of these chords is not perceived due to psychological phenomena, they produce an ambiguity of notation and sound. This ambiguity is absent in performances that conform to the notated octave register, thus exhibiting different relations between the sounds of the voice and piano.
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