Heißes Wasser als Extraktionsmittel

2016 
In der Phytotherapie entwickeln sich entgegen offensichtlicher Tatsachen auch in jungster Zeit immer wieder Mythen. Ein Mythos ist die Hypothese, dass Wasser fur pflanzliche, arzneiliche Zubereitungen kein geeignetes Extraktionsmittel ist. Das Europaische Arzneibuch steht fur die Qualitat samtlicher Arzneistoffe und Arzneimittel, es legt die Qualitatskriterien fest. Es enthalt eine ganze Reihe von Extraktmonografien, fur die Wasser als Extraktionsmittel empfohlen wird. Heises Wasser (meistens > 60 °C) ist zugelassen fur Trockenextrakte aus Melissenblattern, Pfefferminzblattern, Boldoblattern, Cascararinde, Baldrianwurzeln, Artischockenblattern und Aloe. Wasser als Extraktionsmittel ohne Temperaturangaben wird beschrieben fur die Trockenextraktmonografien von Weisdornblattern mit Bluten, Teufelskrallenwurzeln, Weidenrinde und Pfefferminzblattern. Die Schweizer Pharmakopoe stellt zudem ihren zusammengesetzten Feigensirup, der Sennesfruchte als Ausgangsstoff enthalt, mit einer Kaltwasserextraktion her. Die Extraktionskraft von Wasser kann anhand von einfachen Beispielen illustriert werden: Die Anwendung des Leinsamens wird traditionell empfohlen nach einer mehrstundigen Quellung mit kaltem Wasser. Der Schleim der Leinsamen wird so aus der ausersten Schicht der Samenschale freigesetzt. Jeder Pfefferminztee wird beim heisen Aufguss innerhalb weniger Sekunden gelb, spater braunlich und riecht unweigerlich nach Pfefferminze, was bedeutet, dass auch atherische Ole gelost werden. Die C-Glykoside (Vitexinderivate) in Weisdorn sind im Unterschied zu den O-Glykosiden gut wasserloslich, ebenso einfache Glykoside wie Arbutin und Salicin. Die Ausbeute an Salicin in Weidenrindenextrakten ist hoher, wenn der pH kontrolliert und auf 7,2 gehalten wird. Die in der Droge vorliegenden Ester (Salicortin und Derivate des Salicortins) beginnen bei diesen Verhaltnissen zu hydrolisieren und setzen so Salicin frei (Abb. 1). Die Antrachinonglykoside in Sennesblattern und -fruchten sowie in Faulbaumrinde sind gut wasserloslich, sodass Teebeutel durchaus eine adaquate Arzneiform auch fur Laxantien sind, zumal der Hersteller von zugelassenen Produkten verpflichtet ist, das verwendete Drogenpulver zu standardisieren [1]. Entsprechend der Wasserloslichkeit enthalt auch der zusammengesetzte Feigensirup der Schweizer Pharmakopoe nach der Herstellung eine adaquate Menge an Sennosiden, verbunden mit der Moglichkeit individuell zu dosieren. Heises Wasser zeigt im Vergleich zu kaltem Wasser auch fur verschiedene etwas lipophilere Substanzen eine beachtliche Extraktionskraft. Entsprechend hoch ist die Ausbeute an Chlorogen- und an Rosmarinsaure bei der Extraktion mit heisem Wasser. Chlorogensaure ist eine Leitsubstanz von Artischocke, Rosmarinsaure spielt bei allen Labiatendrogen eine Rolle. Kaltes Wasser ist in diesen Fallen hingegen ohne Effekt. Der Grund liegt darin, dass die Dielektrizitatskonstante von Wasser mit erhohter Temperatur kleiner wird. Die Dipoleigenschaften des Wassers reduzieren sich, die Extraktionskraft steigt und kann gemas vorliegender Erfahrungen etwa mit 30% Ethanol in Wasser verglichen werden. Sehr lipophile Substanzen konnen mit Wasser nicht extrahiert werden. So enthalten per heisem Aufguss hergestellte Johanniskrauttees kein Hyperforin und Capsaicin lasst sich aus den Schoten des spanischen Pfeffers nicht ohne Losungsvermittler in ein wassriges System uberfuhren. Das gilt jedoch nicht fur atherische Ole. Die Ausbeute erreicht zwar nicht 100%, doch das ist auch nicht notig. Heiswasserzubereitungen aus Drogen, die atherische Ole enthalten, konnen therapeutisch nicht direkt mit diesen verglichen werden. Sie sind komplexer in der Zusammensetzung: Wasser extrahiert Stoffe, die im reinen atherischen Ol nach Wasserdampfdestillation nicht enthalten sind, etwa spasmolytische Flavonoide bei der Kamille und die lokal (z.B. bei Halsschmerzen) antientzundliche Rosmarinsaure in Labiatendrogen. Sowohl aus Pfefferminzblattern als auch aus gequetschten Anis- und Fenchelfruchten konnen 20 – 30% der wichtigsten Komponenten des atherischen Ols in einem Teeaufguss gemessen werden [2]. Dabei ist es wichtig, das siedende Wasser nach der Zugabe nicht mehr weiter zu kochen, da die Gehalte danach rasch sinken, je nach Fluchtigkeit der einzelnen Komponenten. Teilweise kann dieser Effekt auch genutzt werden: So enthalten aus einer heisen Zuckermasse gegossene Lutschtabletten aus Salbei kein Thujon, da sich dieses beim Herstellprozess verfluchtigt. Die in der traditionellen chinesischen Medizin weit verbreiteten Dekoktierungsverfahren haben bei Rhabarberwurzel zur Folge, dass von den gemas neusten Untersuchungen in unerwarteten Mengen vorhandenen funf Aglyka nur Rhein verbleibt und dass das – zurecht oder unrecht – in die Kritik geratene Asaron in Zubereitungen aus Calmuswurzeln (Asari radix et rhizoma) unter den Grenzwert gesenkt werden kann. Wasser erweist sich somit als vielfaltiges Extraktionsmittel, das seine Bedeutung behalten wird. Die Teezubereitung ist fur die Phytotherapie zurecht unverzichtbar. Fur die industrielle Extraktproduktion sind Ethanol-/Wasserextraktionen insbesondere fur die weit verbreiteten Trockenextrakte in vielen Fallen vorteilhafter, da das Abdampfen von Wasser sehr energieaufwandig ist und mit Ethanol-/Wassermischungen die Volumina der Extraktionsmittel kleiner gehalten werden konnen. Fur Wasser stehen Spruh- und Gefriertrocknung zur Herstellung von Extrakten bei Bedarf dennoch zur Verfugung. Dank: Wir danken dem Schweizerischen Heilmittelinstitut SWISSMEDIC, Abteilung Pharmakopoe sowie den Supportern der Fachgruppe Phytopharmazie an der ZHAW in Wadenswil fur die finanzielle Unterstutzung. [1] Meilhammer B. Untersuchungen zur Hydroxyanthraceenfreisetzung aus Abfuhrtees unter haushaltsnahen Extraktionsbedingungen. Dissertation Universitat Regensburg. 2003. Referent Gerhard Franz. [2] Niesel S. Untersuchungen zum Freisetzungsverhalten und zur Stabilitat ausgewahlter wertbestimmender Pflanzeninhaltsstoffe unter besonderer Berucksichtigung moderner, phytochemischer Analyseverfahren. Dissertation Freie Universitat Berlin. 1992. Referent Heinz Schilcher Prasentiert werden zudem Daten aus verschiedenen studentischen Arbeiten der ZHAW in Wadenswil. Link: https://www.zhaw.ch/de/lsfm/institute-zentren/icbt/phytopharmazie-und-naturstoffe/studium/#c25797
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