Verlauf und palliativmedizinische Behandlung in der Terminalphase bei Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose

2004 
Beinahe alle ALS Patienten entwickeln im Verlauf ihrer Erkrankung Symptome einer respiratorischen Insuffizienz. In diesem Zusammenhang wird von den Betroffenen regelhaft die Angst vor dem Erstickungstod geausert. Bis zur Erstveroffentlichung der eigenen Ergebnisse gab es nur wenige Daten uber die Terminalphase der ALS. Diese betrafen ausschlieslich Patienten, die in einem Hospiz gestorben sind oder von einer derartigen Einrichtung in der Sterbephase betreut wurden [O’Brien 1992; Oliver 1996]. Mit der Absicht, diese Erstickungsangste zu entkraften, fuhrten wir eine retrospektive Studie uber den Verlauf der Terminalphase der ALS durch. Dazu sichteten wir die Unterlagen und/oder Akten von 202 Patienten der Motoneuronambulanz an der Neurologischen Klinik der Universitat Munchen, die mit einer wahrscheinlichen oder sicheren ALS von Januar 1995 bis Marz 1999 gestorben waren. In 121 Fallen war es moglich, ein strukturiertes Telefoninterview mit der Hauptpflegeperson der Patienten durchzufuhren. Die gestellten Fragen konzentrierten sich - jeweils aus Sicht der Hauptpflegeperson - auf die Symptome und den Grad des Leidens sowie des Bewusstseins in der Sterbephase, den Sterbeort, das Verhaltnis zu lebensverlangernden Masnahmen und die Palliativmasnahmen, die in der Sterbephase angewendet wurden. Insbesondere wurde nach Medikamenten, vor allem nach Opiaten und Benzodiazepinen, wie auch nach Ernahrungshilfen und Beatmungsmasnahmen gefragt. Von den 121 Patienten waren 50 weiblichen und 71 mannlichen Geschlechts. Das mittlere Sterbealter war 62,7 Jahre (27-86) und die mittlere Erkrankungsdauer betrug 36,4 Monate (7-131). Bei 84 Betroffenen begann die Erkrankung an den Extremitaten und bei 37 bulbar. Von den Hauptpflegepersonen waren 83 Ehepartner/Lebensgefahrte, 25 Kinder, acht Verwandte und zwei Bekannte oder Freunde der Patienten sowie drei Krankenschwestern. Zu Hause oder in einem Pflegeheim starben 74 Patienten. Die ubrigen 47 Erkrankten verstarben in einem Krankenhaus oder einer Palliativstation. Zwei Patienten haben sich bewusst zum Sterben in eine Palliativeinrichtung aufnehmen lassen. Die Todesursache war in 99 Fallen eine respiratorische Insuffizienz. Jeweils acht Patienten verstarben an einer Lungenentzundung und Herzversagen sowie zwei an einem Tumorleiden. Einer der Erkrankten beging Selbstmord. Bei den restlichen Patienten hatte der Tod verschiedene andere Ursachen. Der Tod trat bei 33 Erkrankten in wachem, bei 75 in schlafendem und bei 13 in komatosem Zustand ein. Symptome der letzen 24 Stunden waren bei 24 Patienten Dyspnoe, bei zehn Unruhe und Angst, bei neun Verschlucken von Speichel oder Bronchialschleim, bei funf Hustenanfalle und in zwei Fallen diffuse Schmerzen. Diese Beschwerden wurden bis auf sieben Falle suffizient palliativmedizinisch gelindert. Kein Patient unserer Studie ist erstickt und 107 (88,4%) der Kranken starben friedlich. Sechs Patienten litten masig in der Sterbephase und einer der Kranken starb qualvoll. Eine Reanimation wurde erfolglos bei sechs Patienten durchgefuhrt und es kam zu einem Suizid. Aktive Sterbehilfe wurde wiederholt von acht Erkrankten gewunscht. Von diesen Patienten nahm sich einer tatsachlich das Leben und drei weitere unternahmen je einen erfolglosen Suizidversuch. Ferner auserten 35 Betroffene mehrfach Sterbewunsche und sprachen sich zudem, wie 40 weitere Patienten, deutlich gegen lebensverlangernde Masnahmen aus. Die verbleibenden 39 Untersuchten gaben keine Sterbewunsche oder Stellungnahmen zu moglichen intensivmedizinischen Schritten an. Ohne Beatmungsmasnahme bis zum Tod blieben 81 (66,9%) Erkrankte. In 21 Fallen wurde uber Nasenmaske und viermal uber Tracheostoma eine Heimbeatmung angewendet. Die mittlere Beatmungsdauer betrug 297 Tage (2-1695). Bei weiteren funf Patienten wurde diese Masnahme wegen Nebenwirkungen nur vorubergehend gebraucht. Das Tracheostoma wurde von zwei Angehorigen und die Nasenmaske von 20 Pflegepersonen als positiv bewertet. Intubationen wurden neunmal vorgenommen, wovon sechs auf ausdrucklichen Patientenwunsch wieder ruckgangig gemacht wurden. Keiner der Hauptpflegenden wurde, erneut vor die Wahl gestellt, einer Intubation zustimmen. Mit einer PEG versorgt wurden 33 (27%) Patienten im Mittel uber 192 Tage (6-1008). An Nebenwirkungen traten zweimal schwere Infektionen auf, die zur Sondenentfernung fuhrten. Einmal kam es bei der Anlage der Sonde zu einem Herzstillstand. Eine erneute Zustimmung zu dieser Ernahrungshilfe wurden 30 (91%) der Angehorigen geben. Verweigert wurde das erneute Einverstandnis zur PEG-Anlage in sechs Fallen. Die Grunde - aus Sicht der Angehorigen - waren zu gleichen Teilen zum einen die Nebenwirkungen und zum anderen die durch diese Masname herbeigefuhrte Lebens- und somit Leidensverlangerung Morphin wurde von 33 (27%) Patienten uber eine mittlere Dauer von sechs Tagen (1-52) eingenommen. Die mittlere Dosis fur ein orales Dosisaquivalent betrug pro Tag 90 mg (10-360 mg). Die Hauptindikationen waren Atemnot (in 25 Fallen) und Schmerzen. Aus Angst vor Nebenwirkungen verweigerten zwolf Patienten sowie vier Arzte den Einsatz von Morphin. Eine gute symptomlindernde Wirkung bei geringen Nebenwirkungen wurde dem Praparat von 30 Hauptpflegenden bestatigt. Benzodiazepine wurden in 39 Fallen eingesetzt. Die mittlere Anwendungszeit betrug 120 Tage (1-1400). Bei 29 Patienten war die Angst vor Atemnot die Hauptindikation. Aufgrund der Angst vor unerwunschten Wirkungen lehnten vier Erkrankte die Einnahme von Benzodiazepinen ab. Ein sehr guter palliativer Effekt dieser Substanzgruppe wurde von 33 Angehorigen bemerkt. Insgesamt sind etwa 90% der untersuchten ALS-Patienten friedlich gestorben, die Mehrzahl davon im Schlaf. Kein ALS-Patient ist erstickt, und die Dauer der akuten zum Tode fuhrenden Verschlechterung betrug bei 2/3 der Erkrankten unter 24 Stunden. Dies ist im Vergleich mit anderen Studien an Normalpatienten, in denen die Spanne der friedlichen Sterbevorgange von 47,5% ohne sedierende Masnahmen bis 94% unter den medizinischen Bedingungen eines stationaren Hospizes reicht, als deutlich uberdurchschnittlich anzusehen. Wenn eingesetzt, wurden PEG, die nicht-invasive Heimbeatmung, Morphin und Benzodiazepine von den Hauptpflegepersonen in den meisten Fallen als hochwirksame palliative Therapien angesehen. ALS-Patienten sollten demnach, spatestens beim ersten Auftreten von Atemschwierigkeiten, uber den naturlicherweise gutartigen Verlauf der Sterbephase aufgeklart werden. Zudem sind die Betroffenen uber die gute Wirksamkeit von palliativen Masnahmen zu informieren. So konnen wirkungsvoll die unberechtigten Angste vor den Erstickungstod bei den Patienten und deren Angehorigen zerstreut und die Lebensqualitat aller von der ALS Betroffenen verbessert werden.
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